Reise zum Baikalsee

März 18, 2020 Aus Von Elsa

Im Sommer letzten Jahres rief mich eine russische Freundin an und erzählte, dass sie eine Reise zum Baikalsee plant, ob ich Lust hätte mitzukommen? Ich sagte zu und flog Ende Februar von Berlin über Moskau nach Irkutsk.
Das Russland-Feeling begann schon im Flugzeug, wo uns der Pilot zunächst auf Russisch begrüßte und im Anschluss seinen Text so schnell und undeutlich auf Englisch herunterratterte, dass wir kein Wort verstanden.
In Moskau hatten wir sieben Stunden Aufenthalt und Zeit uns etwas kennenzulernen. Wir waren fünf Frauen (Jana, Jana, Ute, Manu und ich) zwischen 30 und 60 aus unterschiedlichen Gegenden Deutschlands, die auf unterschiedlichen Wegen zu dieser Reise gekommen waren. Einige kannten auch meine Freundin, andere waren Aufrufen für die Reise in sozialen Netzwerken gefolgt.
Am Abend verließen wir Moskau. Die Stadt funkelte unter uns im gelblichen Schein und die Straßen zogen sich wie helle Adern, in denen der Nachtverkehr pulsierte, durch die Stadt.
Langsam ließen wir die Metropole hinter uns, die Lichter wurden weniger und irgendwann sah man nur noch vereinzelt den hellen Fleck eines kleinen Dorfes.
Um 8:00 Uhr morgens kamen wir nach etwas mehr als Stunden Flug, pünktlich zum Sonnenaufgang, in Irkutsk an. Olja, unsere russische Reiseleiterin und Dima, der, im Gegensatz zu Olja, Deutsch sprach, holten uns vom Flughafen ab. Im Hostel trafen wir dann auf den Rest der Gruppe: Ivan aus Moskau, Thomas aus Deutschland und unsere beiden russischen Fahrer.
Nach einem ausgiebigen Frühstück im Hostel machten wir einen kleinen Spaziergang durch Irkutsk. Die Straßen waren von Holzhäusern gesäumt, die im Laufe der Zeit etwas abgesackt waren und teilweise schief standen. Die Fenster waren von schön geschnitzten, bunten Holzläden umrahmt. Diese Bauweise ist für russische Städte üblich, allerdings hat jede Stadt ihre eigenen Muster, sodass sich an den Schnitzereien der Fensterläden die Stadt erkennen lässt.
Zwischen den grau-bunten Holzhäusern standen weiße Kirchen mit grün-goldenen Zwiebeltürmen. Innen waren die Kirchen mit goldlastigen Gemälden und Ikonen geschmückt und je näher wir dem Zentrum kamen, desto mehr wurden auch die Steinhäuser, die von der Bauweise an unseren barocken Baustil erinnerten.
Wir luden unser Gepäck in einen Geländewagen und stiegen in einen grauen Kleinbus, in dem uns unser Fahrer die nächsten Tage herumfahren würde. Gegen Nachmittag erreichten wir ein Dorf und hielten vor einem Holzhaus, in dem uns eine Frau empfing. Auf ihrem Holzofen hatte sie uns ein köstliches Mittagessen zubereitet. Es gab Suppe und Omul (den beliebtesten Fisch aus dem Baikal) auf Kartoffelbrei. Nach dem Essen fuhren wir auf die andere Seite des Dorfes, wo uns eine weite Frau mit ihrem Sohn erwartete und uns über ihre Schlittenhundefarm führte. Sie zeigte uns ihre Tiere – stolze Malamuts mit dickem Winterfell, die in ihren Käfigen darauf warteten, uns auf den Schlitten durch den Schnee ziehen zu dürfen.
Auf einem selbst gebauten Hundeschlitten, bestehend aus einem Paar Langlaufski, Haltegriff, Bremse und Beifahrersitz konnten wir nun hinter dem vorausfahrenden Auto mit dem Hundeschlitten fahren. Auf Russisch wurde uns erklärt, wie man den Schlitten lenkt: Die Bremse immer halten und erst beim Losfahren lösen. Zum Rechtslenken das Gewicht nach rechts verlagern, zum Linkslenken nach Links. Dima übersetzte die auf Deutsch, dann hieß es Mutige voraus. Die Hunde waren voller Bewegungsdrang, mussten unterwegs aber manchmal ihre Rangordnung klarstellen und fielen übereinander her, ohne auf den Schlitten, den sie hinter sich herzogen, Rücksicht zu nehmen. Dies war für die ungeübten Fahrer nicht ganz einfach und so brauchten wir einige Zeit, bis eine verträgliche Hundekombination gefunden war. Schließlich kam ich an die Reihe. Ich stellte mich auf die Bremse, nahm eine stabile Körperhaltung ein und gab der Fahrerin das Go. Das Auto fuhr los, ich löste die Bremse und die Hunde jagten dem Auto hinterher, immer weiter nach rechts Richtung Tiefschnee. Da wollte ich nicht hin und lehnte mich nach links, was die Hunde nur wenig interessierte. Schließlich verlor ich das Gleichgewicht, der Schlitten kippte um und ich fiel auf die Schneestraße. Die Hunde liefen einfach weiter, bis das Auto stoppte und die Frau den Schlitten wieder auf die Kufen stellte. Beim zweiten Versuch war es etwas einfacher, da ich lernte, mein Gewicht zu verlagern, ohne den Schlitten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Diesmal merkten auch die Hunde meine Gewichtsverlagerung und steuerten nach Links um auf der präparierten Schneestraße zu bleiben. Nach 2 Km Teststrecke ging den anfangs so eifrigen Hunden die Puste aus und ich musste den Schlitten bremsen, um die Hunde nicht zu überfahren.
Nachdem alle mit dem Schlitten gefahren waren, fuhren wir weiter Richtung Baikalsee. Als wir unsere Unterkunft erreichten, war es bereits dunkel geworden. Eine Frau empfing uns in einem mit Bärenfellen und präparierten Hirschköpfen geschmückten Wohnzimmer eines Blockhauses. Im Kamin knisterte ein Feuer und wir bezogen unser Nachtlager. Für unsere 11-Köpfige Gruppe gab es 3 Zimmer und wir fielen nach der langen Reise und den 7 Stunden Zeitverschiebung todmüde ins Bett.
Am nächsten Morgen schien die Sonne. Aus dem Fenster sah man über die Holzhäuser des Dorfes auf die unendliche Eisfläche des Baikalsees. Zum Frühstück gab es Omelette mit Speck, Käse und Paprika, Pfannkuchen mit süßer Kondensmilch, Käse, Marmelade, Brot und Obst.
Unten am See wartete bereits unser Luftkissenboot, mit dem wir ca. 75 Km auf dem Eis nach Nordosten fuhren oder besser drifteten. Richtig geradeaus fahren konnten wir mit diesem Gefährt nicht, da es auf Kurven nur sehr verlangsamt reagierte und dann oft seitwärts driftete. Der Fahrer kannte aber sein Gefährt und wusste damit umzugehen. Unterwegs hielten wir immer wieder an und bestaunten das bis zu 1m dicke, schwarze Eis, das von vielen weißen Rissen durchzogen war. Immer wieder passierten wir Bereiche mit vielen Eisschollen, die entstanden, wenn zwei große Eisflächen aufeinander trafen. Dann splitterte das Eis an den Rändern und die mannshohen, türkiesblauen Eisschollen türmten sich in großen Bergen auf. Mit dem Boot, und später auch mit dem Auto, mussten wir dann Stellen suchen, an denen die Schollen entweder klein genug waren oder zur Seite geräumt wurden, damit wir die Eisflächen überqueren konnten.
Die Mittagspause verbrachten wir auf den Eis, wo wir nach russischer Tradition Samogon (selbstgebrannten Schnaps) tranken. Der Schnaps sollte aus Gläsern aus Eis getrunken werden, die jedoch schnell auftauten, als wir den Alkohol einfüllten. So ergoss sich der wertvolle Tropfen auf dem Eis. Viel zu schade, dachte Dima und begann den Schnaps vom blanken Eis zu schlürfen. Wir taten es ihm nach und es ergab sich ein lustiges Bild, wie wir um die leckenden Schnapsgläser herum lagen und den Samogon vom blanken Eis schleckten.
Für den richtigen Genuss hatten wir aber stabilere Trinkgefäße dabei und es gab, nach russischer Tradition ein Buffet mit Brot, diversen Aufstrichen und eingelegtem Gemüse.
Nachmittags erreichten wir ein Dorf, wo wir in einem unscheinbaren Haus zu Mittag aßen. Wieder gab es eine reichhaltige Mahlzeit aus Suppe, Fisch, und Kartoffelbrei.
Nach einem Besuch des örtlichen Plumpsklos, einer Hütte mit einem Loch im Holzfußboden, über das man sich kauern musste, wenn man sein Geschäft verrichten wollte, fuhren wir mit dem Auto weiter. Unterwegs hielten wir noch bei einem heiligen Platz, wo Olja eine Packung Reis opferte, damit die Geister uns auf der Reise wohlgesonnen waren.
Im Dunkeln erreichten wir Ujuga, ein Feriendorf, in dem wir die nächsten 3 Nächte verbrachten.
Der nächste Morgen begann wieder mit einem reichhaltigen Frühstück. Neben Omelette und Pfannkuchen hatten wir auch noch die Wahl zwischen Milchreis, Hafer- oder Hirsebrei.
Nach dem Frühstück zogen wir mit Schlittschuhen los zum See. Leider waren die Kufen meiner Schlittschuhe so stumpf, dass ich immer wegrutschte und beschloss, das Eis mit meinen Wanderschuhen zu erkunden. Das Eis hatte auch hier wieder viele Muster zu bieten: Mal gab es kleine dunkle Flecken, die wie Quallen oder Einschusslöcher in das graublaue Eis gemalt waren. An anderen Stellen waren kleine Säulen aus tausenden kleinen Luftbläschen im türkiesgrünen Eis eingefroren. Wir gingen unserer Fotoleidenschaft nach, hielten die Muster im Eis fest und machten allerlei Experimente mit unseren Kameras.
Nach dem Mittagessen – es gab Suppe, Teigtaschen mit Fleisch-, Kohl- und Kartoffelfüllung, Fleisch, Fischfrikadellen und Ofenkartoffeln – machten wir eine Wanderung zu den nahegelegenen Inseln. An den Felsen waren die Wellen gefroren und sahen aus, wie gefrorene Schlagsahne, die mit einem großen Löffel locker aufgetragen wurde. Von anderen Felsen hingen dicke Eiszapfen, die an manchen Stellen schon zu Eissäulen geworden waren.
Die Verständigung auf der Reise verlief hauptsächlich auf Russisch und Deutsch, manchmal auch etwas Englisch. Olja erzählte uns etwas auf Russisch, Dima übersetzte auf Deutsch. Am Nachmittag war Dima mit einigen aus der Gruppe Funbuggy fahren, sodass wir uns auf Englisch unterhalten mussten. Es stellte sich heraus, dass Oljas Englisch besser war, als sie behauptete. Ich übersetzte für die anderen, die nicht so gut Englisch konnten, ins Deutsche und fungierte ab diesem Nachmittag als zweite Übersetzerin.
Die internationale Zusammensetzung der Gruppe in Verbindung mit der Tatsache, dass niemand eine Fremdsprache fließend konnte, machte die Reise sehr lustig. Die Verständigung war wie ein permanentes Activity-Spiel. Es wurden Wörter umschrieben, pantomimisch oder mit Stift auf Papier dargestellt. Wurde das Wort nicht erraten, zogen wir unsere Wörterbuch-Apps heran. Manchmal vergaßen wir aber auch, welche Sprache wir gerade sprachen und es gab Sprachchaos. Dima sprach mit Olja auf Deutsch, diese guckte ihn verständnislos an und bat ihn, Russisch zu sprechen. Dima sprach auf Deutsch weiter, bis ich ihn auf Deutsch darauf aufmerksam machte, dass er mit Olja gerade in der falschen Sprache spricht. Aber auch ich ertappte mich manchmal dabei, wie ich mit meinen deutschen Reisepartnern englisch sprach, ohne es wirklich zu merken. Die Worte kamen einfach in meinen Kopf und ich musste mich anstrengen um nicht zwei Sprachen in einem Satz zu vermischen. Im Laufe der Reise kamen auch meine Russischkenntnisse aus der Schule wieder zum Vorschein. Ich verstand immer mehr Russisch und brauchte am Ende der Reise keinen Übersetzer mehr. Nur zum Sprechen reichte es noch nicht. Ich konnte auf Fragen nur einfache Antworten geben oder Englisch sprechen, was aber nicht alle verstanden.
Am nächsten Tag holte uns unser Fahrer Ljoscha wieder ab und wir fuhren auf die Insel Olchon. Ljoscha fuhr in zügigem Tempo und nahm auf Schlaglöcher oder Eisschollen nur wenig Rücksicht. Er bremste kurz und scharf ab, fuhr aber immer noch so schnell über die Unebenheiten, sodass sich die hinterste Bank auf der Achse in einen Schleudersitz verwandelte und wir mit den Köpfen an die Decke stießen. Um Beulen zu vermeiden, hielten wir uns an den Vordersitzen fest und zogen den Kopf ein, wenn Ljoscha scharf abbremste. Wie das Auto die vielen Schlaglöcher unbeschadet überstand, war für mich ein Rätsel.
Den ersten Stopp legten wir bei einer Stupa, einem buddhistischen Bauwerk auf der Insel Ogoi ein. Hier war es sehr touristisch. Im Uhrzeigersinn liefen wir schweigend um den Tempel und hofften, dass unsere gedachten Wünsche in Erfüllung gingen.
Wir fuhren weiter zu entlegenen Inseln, deren Felsküsten mit Eis in allen Formen überzogen war. Mal schien das Eis wie dicke, klebrige Zuckerfäden, die aus dem See gezogen wurden, mal sah es aus wie Zuckerguss, der den Stein hinunterlief. Die Felshöhlen waren voll mit bis zu 2 Meter langen Eiszapfen, die von der Decke hingen.
Unser Mittagessen wärmten wir auf dem Lagerfeuer. Zur Fischfrikadelle im Kartoffelbett gab es frische Gurken und Tomaten, die in der Kälte binnen weniger Minuten zu einem knackigen Eisgenuss wurden.
Am Nachmittag erreichten wir den Schamanenfelsen, ein schöner, aber sehr touristische Platz. Auf einem kargen Sandhügel thronten die Säulen der Serge, Pfähle aus Holz, die mit bunten Bändern umwickelt waren und die braun-weiß-blaue Landschaft mit farbigem Leben erfüllten. Von den Säulen hatten wir einen schönen Blick auf die Schamanenfelsen, einen heiligen Ort der Burjaten, der früher für Schamanenrituale genutzt wurde.
Am Abend tranken wir russisches Bier und Wodka und tauschten deutsche und russische Trinksprüche und -rituale aus. Beide Nationen waren bekannt für ihren Alkoholkonsum, wobei die Russen aber sehr erstaunt waren, als wir Deutschen den Alkohol einfach so tranken, ohne etwas dazu zu essen. In Russland ist es üblich, zum Alkohol immer etwas zu essen.
Am nächsten Tag überquerten wir den Baikalsee. Wir luden unser Gepäck in Ljoschas Bus, hängten den Anhänger, den Loscha in Ujuga deponiert hatte, an und stiegen in einen UAZ-Buchanka ein geländetauglicher Kleinbus, den die Russen liebevoll Russisch Brot (nach seiner Kastenbrot-Form) nannten. Unser neuer Fahrer hieß Paul und konnte ein paar deutsche Wörter: „Hände hoch“ und „weiter fahren“. Wir fuhren den Strand hinunter, über Eiswellen und Schollen auf den See. Nach ein paar Metern auf dem Eis hielt Paul an und stieg aus. Ljoscha hatte beim Überqueren der Eiswellen den Anhänger verloren. Das verzogene Zugmaul der Anhängerkupplung wurde mit ein paar Hammerschlägen wieder zurechtgebogen, der Anhänger wieder angehängt und weiter ging es. Der bisher sehr geländetaugliche Bus von Ljoscha war mit dem Schnee und Eis auf dem See etwas überfordert und wir mussten bei der Überquerung mehrmals anhalten um den Bus aus Schneewehen oder unebenen Passagen aus Eisschollen zu ziehen. Der Anhänger litt auf der Überquerung etwas. Erst brach eine Ecke des Planenaufbaus ein, dann die andere, bis wir ihn schließlich abbauten, bevor er ganz zusammenfiel.
Auf unserer 150 Km langen Querung über den See passierten wir riesige Felder mit mannshohen Eisschollen, tranken aus einer Eisspalte frisches Baikalwasser (kalt aber lecker) und machten mehrere Stopps um das schöne Eis zu bestaunen. In Ust-Bargusin erreichten wir das Ostufer des Sees und damit eine andere Welt: Burjatien. Hier sahen die Menschen sehr asiatisch aus. Wir fuhren weiter auf die Halbinsel „Heilige Nase“ und übernachteten bei Alexej und seiner Frau, die in einem einsamen Haus mitten auf der Halbinsel wohnten. Den Strom erzeugten sie mit den Solarpanelen, die sie am Haus angebracht hatten und wir mussten mit dem Strom haushalten, damit er auch bis zum nächsten Tag reichte. Das Essen wurde auf dem Holzofen zubereitet. Es gab Möhrensalat, Suppe, frischen, marinierten Fisch, Leber auf Buchweizen und zum Nachtisch dicke Pfannkuchen mit süßer Kondensmilch, die wie flüssige weiße Schokolade schmeckte. Den Abend ließen wir mit einem Bad in einer heißen Quelle ausklingen. Wir lagen bei -15°C in einem 38°C warmen Wasserloch mitten im Moor und schauten in den unendlichen Sternenhimmel. Das Umziehen draußen war dabei weniger kalt als befürchtet und auch den Schwefelgestank (wie faule Eier) hatten wir schnell ausgeblendet.
Am nächsten Tag holte uns Paul wieder ab und wir erkundeten die heilige Nase. Wir kamen in ein Dorf mit bunten Holzhäusern. Auf der Straße begrüßten uns die für russische Dörfer typischen Straßenhunde und wir sahen einen Mann, der aus einem Loch im Eis Wasser in ein großes Fass schöpfte, das er mit dem Schlitten nach Hause zog. Die Mittagspause verbrachten wir in einem Jurtendorf auf dem See. Die Jurten waren extra für Eisfischer aufgestellt worden. Für ein paar Rubel am Tag konnte man sich eine Jurte mieten, am gemütlich warmen Holzofen sitzen und durch ein Loch, das durch den Holzboden der Jurte und das Eis gebohrt war, fischen.
Beim Abendessen fragten wir uns, was Menschen eigentlich brauchen, um glücklich zu sein. Die Menschen, die hier in sehr einfachen Verhältnissen von dem lebten, was die Natur hergab und deren Leben uns sehr schwer und mühsam erschien, schienen irgendwie zufriedener und glücklicher zu sein als wir, die vermeintlich alles hatten.
Die Nacht verbrachten wir, wie alle anderen Nächte auch, in einfachen Mehrbettzimmern. Auch hier bollerte die Heizung munter vor sich hin und kannte nur zwei Einstellungen: an oder aus. Wie sie sich regeln ließ, war uns aber nicht ganz klar, weshalb wir sie anließen und uns bei gefühlten 26°C Raumtemperatur jede Nacht fast zu Tode schwitzten, bis Dima mit uns im Zimmer schlief und, nach Russischer Art, einfach das Fenster auf Kipp stellte. „anders hält man das doch nicht aus!“ meinte er. „Aber Heizung an, schön warm und frische Luft ist super!“ Das wiedersprach dem deutschen Energiesparfuchs natürlich, war aber doch ganz angenehm.
Am nächsten Morgen hieß es wieder Sachen packen. Um 8:00 Uhr verließen wir bei -20°C die Heilige Nase und fuhren nach Ulan-Ude. Unser Gepäck hatten wir in den Anhänger geladen, mit einer Gewebeplane abgedeckt und mit mehreren Spanngurten festgezurrt. Sobald die Straßen asphaltiert waren, lies Ljoscha das Gaspedal nicht mehr los und wir sausten so schnell über die Straßen, dass der Anhänger fast hinterherfliegen musste.
Nach dem Mittagessen verabschiedeten wir uns von Ljoscha, der mit unserem Gepäck zurück nach Irkutsk fuhr. Wir stiegen in einen komfortablen, sehr geräumigen Bus, mit dem uns unser neuer Fahrer in das Buddhistische Kloster Iwolginski Dazan fuhr. Dort gingen wir wieder im Uhrzeigersinn durch die Anlage. Im Norden der Anlage standen kleine, bunte Holzhäuser, in denen die Priester lebten. An den Wegen standen überall Gebetsmühlen. Im Süden der Anlage standen zahlreiche Tempel, die alle sehr kunstvoll verziert waren. Jede, der vielen kleinen Holzleisten war mit einem Muster angemalt. Die Tempel hatten alle eine quadratische Grundfläche und die Dächer liefen an den unteren Enden nach oben aus, damit die bösen Geister beim Hinunterrutschen des Dachs nicht auf dem Boden landeten, sondern weiterflogen. Im Haupttempel saß der mumifizierte Daschi-Dorscho Itigelows, der 70 Jahre nach seinem Tod aus dem Grab gehoben wurde und nahezu ohne Verwesungserscheinungen auf einen Thron in den Tempel gesetzt wurde, von dem aus er einen mit seinen dumpfen Augen irgendwie mahnend anschaute.
Auf dem Weg zurück nach Ulan-Ude hielten wir wieder in einem Dorf an, wo gesattelte Pferde für uns bereit standen. Kurz wurde uns erklärt, wie wir die Pferde zu lenken hatten: leicht am linken Zügel ziehen, wenn wir nach links wollten, leicht am rechten Zügel ziehen, wenn wir nach rechts wollten und an beiden Zügeln ziehen, wenn wir stehen bleiben sollten. Mit einem leichten Schenkeldruck gaben wir den Pferden das Zeichen, loszugehen. Im Schritt ritten wir durch das Dorf. Hinter den hohen Bretterzäunen bellten die Hunde, was unsere Pferde aber zum Glück nicht weiter störte. Der Schnee knirschte unter den Hufen der Pferde. Obwohl ich früher einige Jahre geritten bin und mir der Pferderücken wieder sehr vertraut vorkam, war ich doch etwas unsicher, da ich das Pferd nicht kannte und merkte, dass es sich nicht mit allen Pferden aus der Gruppe gut verstand. Außerdem hatten wir alle keinen Helm auf und ich hatte wenig Lust, vom Pferd zu fallen. Trotzdem war es ein schöner Ritt in der Abendstimmung. Die Sonne ging hinter den Bergen unter und färbte den Himmel in alle erdenklichen Gelb- und Rottöne. Mit gefrorenen Zehen und schmerzenden Beinen kamen wir wieder beim Stall an und waren froh, uns im warmen Auto mit dem restlichen Glühwein vom Vortag aufwärmen zu können.
In Ulan-Ude aßen wir in einem Restaurant zu Abend und lauschten einer Live-Band, bevor wir zum Bahnhof aufbrachen und in letzter Minute unseren Nachtzug erreichten, mit dem wir auf der Route der Transsibirischen Eisenbahn zurück nach Irkutsk fuhren. Wir hatten die einfachste Kategorie (Holzklasse) gebucht, die sich aber als sehr komfortabel erwies. Alle Fahrgäste hatten ihre eigene Liege und wir bekamen eine Rollmatratze und Bettwäsche für die Nacht. Auch hier bollerte die Heizung munter vor sich hin und wir mussten erstmal unsere vielen Klamottenschichten ablegen. Dann packte Olja den Samogon aus, der zur Tarnung in eine Wasserflasche gefüllt war und aus Teegläsern getrunken wurde, da der Alkoholkonsum im Zug offiziell verboten war. Dazu gab es Ente, die Alexej extra für uns geschossen hatte, und gebratenen Fisch. So saßen wir im Dunkeln (das Licht war inzwischen bis auf die Notbeleuchtung abgeschaltet worden) und unterhielten uns flüsternd, damit die anderen Fahrgäste schlafen konnten. Rücksichtnahme wird in Russland noch sehr groß geschrieben und so war es für uns selbstverständlich, andere mit unserem Verhalten nicht zu stören.
Um 7:00 Uhr morgens kamen wir in Irkutsk an. Ljoscha empfing uns am Bahnhof und brachte uns in unser Hostel, wo wir uns kurz stärkten, bevor wir wieder Richtung Baikalsee aufbrachen, wo Thomas und Ivan Eistauchen gingen, während die anderen auf dem Markt Souvenirs und Pinienkerne kauften.
Nachmittags fuhren wir zu einem Freilichtmuseum, wo das Ende der Masleniza (Butterwoche) gefeiert wurde. Die Masleniza wird in Russland immer zum Ende des Winters und zu Beginn der Fastenzeit gefeiert. Für jeden Tag gibt es unterschiedliche Bräuche und Rituale. Am Sonntag geht die Butterwoche zu Ende. Dieser Tag wurde im Freilichtmuseum mit traditioneller Musik, gemeinsamen Gesängen und Volkstänzen gefeiert. Ergänzend gab es Kunsthandwerk und Essen, vor Allem Pfannkuchen, das traditionelle Gericht zur Maselniza. Zum Ende des Tages versammelten sich alle um das Feuer, das bereits vorbereitet war. Ein Mann ging mit einer Strohpuppe herum und bat alle, sich von dieser zu verabschieden. Dann stellte er sie an den Feuerhaufen und zündete das Feuer an.
Langsam züngelten die Flammen die Äste hinauf und alle stimmten in einen fröhlichen Gesang. Die Flammen näherten sich der Strohpuppe, der Stoff des Kleides verfärbte sich kurz schwarz, bevor er riss und das Stroh freigab. Jetzt brannte die Puppe lichterloh und die Menschen jubelten – der harte Winter war jetzt zu Ende und der Frühling konnte kommen. Es herrschte eine freudige und ausgelassene Stimmung, die nicht ganz zu meiner Stimmung passte, denn bei uns war nicht nur der Winter, sondern auch die Reise vorbei.
Wir fuhren zurück nach Irkutsk in unser Hostel, wo wir uns von Olja verabschiedeten für die letzte Nacht unsere Betten in einer Art Schlafregal bezogen. Die sechs Betten waren wie in einem Regal angeordnet: oben drei und unten drei. Jedes Bett war durch Wände abgetrennt und mit einem Vorhang vor neugierigen Blicken geschützt. Trotzdem gab es aber genügend Platz, um sich umzuziehen. Einige fanden es beklemmend, in so einem kleinen Raum zu schlafen, mich erinnerte es an das Bett in meinem Bus und ich fand es sehr gemütlich. Den Abend ließen wir in einem Restaurant ausklingen, wo wir das letzte Mal russisch aßen und die Reise Revue passieren ließen.
Für mich war die Reise sehr intensiv, da es sehr viele Eindrücke in sehr kurzer Zeit waren. Die internationale Zusammensetzung der Gruppe hatte nicht nur für bessere Völkerverständigung und kulturellen Austausch sondern auch für jede Menge Spaß gesorgt und das Gehirn wurde mit den vielen Sprachen auf Trab gehalten.
Die einfachen Lebensverhältnisse und die damit verbundene Reduktion auf das Wesentliche, die weiten Landschaften mit ihren sanften geschwungenen verschneiten Bergen und das dicke Eis ließen mich den Alltag in Deutschland fast komplett vergessen.
In Berlin war es zunächst sehr irritierend, dass alle Deutsch sprachen. Die Sicherheitshinweise zur Infektionsgefahr beim Corona-Virus wirkten etwas bedrohlich und als ich zuhause meine leeren Vorräte wieder auffüllen wollte und im Supermarkt statt Nudeln und Reis nur leere Regale vorfand, sehnte ich mich wieder in die einfache aber heile Welt am Baikalsee zurück.
Fotos von der Reise findet ihr hier