Mein Alltag als ambulante Betreuerin
Wenn ich mit Leuten über meine Arbeit spreche, merke ich, dass viele mit meiner Tätigkeitsbezeichnung „Ambulante Betreuerin für Menschen mit Behinderung“ nichts anfangen können. „Und was machst Du dann?“ Werde ich oft gefragt. Kurz könnte ich sagen: „ich bringe anderen Menschen bei, wie Leben funktioniert.“ Hier möchte ich nun etwas ausführlicher berichten, was das genau bedeutet.
Ich arbeite in einem kleinen Team aus 14 Leuten. Unser Büro ist eine kleine 3-Zimmer Wohnung im 2. OG einen 11-Stöckigen Plattenbaus mitten in einem sogenannten Brennpunktviertel. Das Büro ist die Basisstation meiner Arbeit und hier beginnt meistens gegen 14 Uhr mein Arbeitstag.
In der Dokumentation halte ich in 4-5 Sätzen fest, was ich am Vortag mit meinen Betreuten gemacht habe, schreibe die Betreuungszeiten auf, beantworte ein paar E-Mails, tippe das Protokoll vom letzten WG-Gespräch ab oder suche nach Therapiemöglichkeiten für meine Betreuten. Wenn noch Zeit ist, tausche ich mich noch mit meinen Kollegen über unsere Betreuten aus, die gemeinsam in einer WG wohnen, dann muss ich auch schon los.
Um 16:00 Uhr klingle ich bei meiner ersten Betreuten Anna*. Sie arbeitet, wie fast alle unserer Betreuten, in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Die Wohnung, die sie sich zusammen mit ihrer Mitbewohnerin teilt, ist von dem Träger, bei dem ich angestellt bin, angemietet und an Anna und ihre Mitbewohnerin untervermietet. Nur so haben Anna aber auch viele andere unserer Betreuten die Möglichkeit, in einer eigenen Wohnung zu leben. Da sie von Sozialhilfe leben, würden sie, aufgrund der negativen Vorurteile gegenüber Sozialhilfeempfängern, auf dem Wohnungsmarkt nur schwer eine Wohnung bekommen.
Zunächst sitzen wir im Wohnzimmer und sprechen über die Arbeit, die WG und Annas Gesundheit. Gemeinsam überlegen wir und Lösungen, wie sie die Konflikte mit den Arbeitskollegen und ihrer Mitbewohnerin lösen könnte. Wir sammeln verschiedene Ideen: Neele könnte die Konflikte direkt mit den betreffenden Leuten besprechen. Ich könnte sie dabei unterstützen. Für die Konflikte auf der Arbeit könnte sie den Sozialen Dienst der Werkstatt hinzuziehen. Anna möchte, dass ich bei dem Gespräch mit der Mitbewohnerin dabei bin. Auch zur Arbeit soll ich mitkommen. Bei diesem Gespräch sollte aber auch der Soziale Dienst dabei sein. Also vereinbaren wir einen Termin für ein gemeinsames Gespräch.
Im Anschluss suchen wir noch Adressen von Therapeuten aus dem Internet. Anna möchte gerne eine Psychotherapie beginnen. Doch die Suche nach einem Therapieplatz ist schwer und die Wartezeiten lang. Bei 10 Therapeuten haben wir bereits angerufen. Niemand hatte einen freien Platz. Eine Therapeutin hat Anna für ein Vorgespräch eingeladen. Für eine Therapie kam sie aber nicht in Frage, da sich die Therapeutin die Therapie von Anna nicht zutraute. Dabei weiß ich aus meiner Berufserfahrung, dass es noch viel schwierigere Fälle als Neele gibt.
Zum Schluss räumen wir noch das Zimmer auf. Ordnung zu halten fällt Anna schwer. Viele Gegenstände in ihrem Zimmer haben noch keinen festen Platz. Dementsprechend legt sie die Dinge auf der nächsten Freifläche ab. Auf der Kommode stapeln sich Fotos, leere Flaschen, Lippenstift, Kontoauszüge, ein Kugelschreiber und eine Schachtel Pralinen. Der Boden ist mit Wäsche übersät, und die DVDs, die lose auf ihren Hüllen vor dem Fernseher liegen und die Weingläser, die zwischen leeren Chipstüten herausragen, zeugen von einem gemütlichen Filmabend am Wochenende.
Wir bringen das benutzte Geschirr in die Küche, sortieren die saubere Wäsche in den Schrank und die schmutzige in den Wäschekorb bzw. in die Waschmaschine. Die Chipstüten landen im Müll und die DVDs werden wieder in ihre Hüllen gesteckt und an ihren Platz gepackt. Auch den anderen Dingen, die bisher heimatlos auf Ablageflächen herumlagen, geben wir einen Heimathafen und langsam kommt wieder Boden in Sicht. Wir saugen noch die letzten Krümel weg, dann muss ich auch schon los.
Um 18:00 Uhr klingle ich bei Paul. Er ist erst vor wenigen Wochen aus einer stationären Wohngruppe in ihre WG gezogen und lebt nun zum ersten Mal alleine. Wir kennen uns erst seit dem Umzug. Ich muss mir zunächst einen Überblick über Pauls Kompetenzen verschaffen. Was klappt gut (eigentlich alles) und wo braucht er meine Hilfe? Auch Paul muss mich erst kennenlernen und merken, dass ich ihn in all seinen Wünschen möglichst unterstützen möchte.
Wir packen ein paar Umzugskartons aus und sortieren die Sachen in die Schränke. Dann überlegen wir, was Paul noch alles für ihr Zimmer braucht und schreiben eine Liste. Im nächsten Termin werden wir dann in einem Antrag auf Erstausstattung Geld beantragen, damit sich Paul die notwendigen Dinge für ihr neues Zimmer kaufen kann.
Zum Schluss gehen wir noch seine Kontoauszüge durch und besprechen Pauls finanzielle Situation. Paul muss nun lernen, mit dem üblichen Sozialhilfesatz von 416,00€ und seinem geringen Gehalt aus der Werkstatt zurechtzukommen. Früher hat er ein Taschengeld bekommen, von dem er sich Zubehör für ihr Aquarium, Kinokarten oder andere Dinge kaufen konnte. Nun muss er von seinem knappen Geld auch noch Essen und Wohnkosten, wie z.B. Strom bezahlen. Das ist neu und ungewohnt.
Mit den 200,00€, die Paul derzeit auf dem Konto hat, muss er noch zwei Wochen auskommen, erst dann gibt es wieder neues Geld. Für Essen würde das Geld locker reichen. Aber Paul möchte am Wochenende seine Familie besuchen und dort mit dem ICE hinfahren. Allein die Fahrt kostet 80€. Damit es günstiger wird, möchte sie eine BahnCard 50 haben, die ebenfalls über 100€ kostet. Auf die Frage, was er denn die nächsten Wochen essen wolle, zuckt Paul mit den Schultern. Ich überrede ihn, mit dem Regionalzug zu seiner Familie zu fahren. Diesen kann er dank seines Behindertenausweises kostenlos nutzen. Wir suchen eine Zugverbindung heraus, bei der er möglichst wenig umsteigen muss und besprechen, wie er zum Bahnhof kommt und wann er am Freitag los fahren muss.
Am Freitag schreibt er mir um 14:24 per WhatsApp:
„Wann fährt nochmal mein Zug?“
„in 3 Minuten. Um 14:27 Uhr“ antworte ich.
„Hmpf!“ kommt zurück.
Paul steht noch zuhause an der Bushaltestelle. Wir finden eine andere Zugverbindung und ich schreibe Paul wann er welchen Zug nehmen muss und wo er wie umsteigen muss. Schließlich kommt er spät abends bei seiner Familie an. Für die Zukunft merke ich mir, dass ich mit Paul nochmal das Uhr-Lesen üben und ihm ein Zeitgefühl für die Zurücklegung bestimmter Wege vermitteln muss.
Die Inhalte der Betreuung sind meistens ähnlich, wie die oben beschriebenen Beispiele. Manchmal koche ich mit meinen Betreuten zusammen etwas, begleite sie zum Arzt oder zur Bank und habe immer ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Nöte. Ich bespreche die Konflikte im Freundeskreis oder helfe im Umgang mit Liebeskummer.
Die Inhalte unserer Betreuung werden vom Amt festgelegt. Einmal im Jahr treffen wir uns mit dem zuständigen Hilfeplaner des Amtes für Familie und Soziales zu einem sog. Hilfeplangespräch. In diesem Gespräch wird die Entwicklung des Betreuten in den fünf Bereichen Gesundheit, Wohnen, Soziales Leben, Finanzen/Behörden und Arbeit/Beschäftigung begutachtet. Wo läuft es gut, wo ist noch Entwicklungsbedarf? Alle sollen irgendwann mal ein möglichst selbständiges Leben, bestenfalls ohne ambulante Betreuung, führen.
Die ambulante Betreuung soll zu diesem selbständigen Leben verhelfen. Dafür werden Jahr für Jahr im sogenannten Hilfeplan Ziele festgehalten. Im Bereich Gesundheit steht bei Anna z.B., dass sie einen Therapieplatz findet. Paul soll sich in seiner neuen Umgebung einleben (vereinbartes Ziel für den Bereich Wohnen/Alltag).
Im Bereich Soziales Leben soll Anna lernen, Konflikte im sozialen Umfeld mit Hilfe ihrer Betreuerin zu lösen und Freunde zu finden. Paul soll im Bereich Finanzen/Behörden den angemessenen Umgang mit Geld üben und lernen, sich das Geld selbst einzuteilen. Im Bereich Arbeit und Beschäftigung sollen beide weiterhin ihrer Tätigkeit in der Werkstatt nachgehen.
Nach einem Jahr schreiben wir einen Entwicklungsbericht in dem wir festhalten wie weit wir in den unterschiedlichen Bereichen gekommen sind. Was lief gut, was nicht? Welche Ziele haben wir erreicht, welche nicht und warum nicht? Gibt es neue Ziele in diesem Bereich, soll das Ziel bestehen bleiben oder ist in diesem Bereich keine Hilfe mehr notwendig? All diese Fragen werden im nächsten Hilfeplangespräch geklärt.
Manch einer mag sich jetzt fragen, warum ich für diese scheinbar einfache Arbeit 5 ½ Jahre studiert habe. Zimmer aufräumen, Finanzpläne aufstellen oder kochen kann doch eigentlich jeder machen. Das mag auch stimmen. Im Vordergrund steht allerdings nicht die Begleitung des Arztbesuches, aufräumen oder kochen, sondern das Erlernen eines eigenständigen und selbstbestimmten Lebens. Finanzpläne, Ordnungssysteme oder Kochaktionen sind dabei nur Methoden Leben zu lernen. In meiner Arbeit greife ich viel auf psychologische Modelle und Theorien zurück, gebe meinen Betreuten Hilfestellungen, anstatt Dinge für sie zu erledigen und bediene mich unterschiedlichster Methoden aus der Gesprächsführung um meine Betreuten zu motivieren oder Probleme, Vorlieben und Motivationen mit ihnen herauszuarbeiten. Mein Wissen über unterschiedliche Behinderungen und Krankheitsbilder hilft mir, mit meinen Betreuten umzugehen und sie so gut wie möglich zu fördern. Mit meinen juristischen Kenntnissen weiß ich Grundsicherungs- Hartz IV- und Wohngeldanträge zu stellen, die Bescheide richtig zu interpretieren und ggf. Widerspruch einzulegen. Ich weiß welche staatlichen Leistungen meine Betreuten beantragen können und an welchen Angeboten sie unter welchen Voraussetzungen teilnehmen können.
Mit diesen Instrumenten kann ich meine Betreuten fördern, ein (möglichst) eigenständiges Leben zu führen und Vertrauen in sich und ihre Selbstwirksamkeit zu gewinnen.
Für einige wird ein ganz eigenständiges Leben aufgrund ihrer Behinderung nie möglich sein. Trotzdem kann ich ihnen mit meinen erworbenen Kompetenzen zeigen, wie sie ihr Leben möglichst eigenständig meistern können.
Ob für diese Arbeit ein Studium erforderlich ist, oder ob man das Wissen und die Methoden auch über eine Ausbildung erwerben kann, ist eine andere Frage, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Eine mehrjährige Ausbildung ist aus meiner Sicht aber in jedem Fall erforderlich, wenn Soziale Arbeit ihr Ziel, sich überflüssig zu machen, indem sie ihre Betreuten in ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben führt, erreichen will.
* Die Namen habe ich aus datenschutzrechtlichen Gründen geändert. Auch der Name meines Arbeitgebers und die Stadt in der ich arbeite, werden hier bewusst nicht genannt.