Inklusive Verwahrung
In den letzten Jahren habe ich in verschiedenen Einrichtungen mit Menschen mit Behinderungen gearbeitet. Gerade in diesem Arbeitsfeld kommt man als Sozialarbeiterin um den Begriff der Inklusion nicht herum: Menschen mit Behinderungen sollen nicht in die Gesellschaft integriert, werden, d.h. sich an unseren Lebensstil anpassen. Stattdessen soll die Gesellschaft den Menschen mit Behinderungen entgegen kommen und ihnen so ein Leben in der Gemeinschaft nach dem Lebensstil eines nicht-behinderten Menschen ermöglichen.
Die Einrichtungen, in denen ich gearbeitet habe, haben den Inklusionsgedanken sehr unterschiedlich umgesetzt. Die Eindrücke, die ich bei der Umsetzung gewonnen habe, haben mich sehr nachdenklich gestimmt.
Die Träger der beiden Wohngruppen, die ich hier beispielhaft beschreibe, unterstützen und begleiten unter Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten jeden einzelnen Menschen bei der Entwicklung persönlicher Lebensperspektiven. Ziel ist es, Menschen mit Behinderungen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu befähigen um Chancengleichheit und Lebensqualität zu verbessern und Selbstverantwortung zu stärken.
Trotz Behinderung ein möglich eigenständiges, selbstbestimmtes Leben führen? Wunderbar! Da schauen wir uns doch mal einen Tag in diesen Einrichtungen an:
Mit dem Fahrstuhl fahre ich in das Erdgeschoss des Wohnhauses, wo mich eine Schar fröhlicher Bewohner, die gerade aus der Werkstatt bzw. der Tagesförderstätte kommen, johlend begrüßt. Einige heben die Hand zum Gruß, andere sehen mich nur von einem Ohr zum anderen grinsend an. Ein paar wenige zeigen keine Reaktion. Weder auf meine Anwesenheit noch auf das Gejohle der anderen. Sie blicken irgendwo ins Leere und scheinen in sich versunken.
Nach einem Hallo in die Runde schiebe ich die ersten beiden Bewohner in den Fahrstuhl und bringe sie auf Ihre Etage. Ich habe heute im 1. OG Dienst und fange an, Kaffee zu kochen und den Tisch zu decken. Nach und nach werden auch die anderen Bewohner nach oben gebracht. Fast alle werden an den Tisch gesetzt. Nur eine Bewohnerin bleibt in ihrem Zimmer. Sie wird über eine Magensonde ernährt und kann nicht so lange sitzen, da sie schnell Rückenschmerzen bekommt und schreit. Daher liegt sie viel in ihrem Bett und hört Musik.
Während der Kaffee kocht, ziehe ich den Bewohnern die Jacken aus und lege ihnen einen Kleiderschutz um. Einige Ungeduldige zeigen auf die Becher am Tisch und signalisieren mir mit Schmatzgeräuschen und Geschrei, dass sie Durst haben. Ich biete ihnen kalte Getränke an, Kaffee ist jedoch das favorisierte Heißgetränk. Also warten. Endlich ist der Kaffee fertig und einigermaßen abgekühlt. Zunächst versorge ich die fittesten Bewohner: der einen klemme ich den Becher in eine Halterung, die ich vor ihrer Brust anbringe. Ich stecke ihr den Strohhalm in den Mund und sie beginnt zu trinken. Dem anderen klemme ich die Tasse zwischen die Finger und stelle sie auf seinem Bauch ab, sodass er mithilfe eines Strohhalms ebenfalls selbständig trinken kann. Dann gehe ich von einem Bewohner zum nächsten und flöße ihnen mit einem Schnabelbecher schluckweise Kaffee ein.
Draußen scheint die Sonne. Eigentlich ein perfekter Tag, um mit den Bewohnern in den Park zu gehen oder einen Stadtbummel zu machen. Doch auch heute herrscht (wie fast jeden Tag) Personalmangel und von meinem Kollegen noch keine Spur. Aber vielleicht hat ja später jemand Zeit. Ich sehe die Dokumentation durch. Gut die Hälfte der Bewohner war schon seit mehr als einem Monat nicht mehr draußen. Außerdem müssten drei heute dringend mal wieder geduscht werden.
Nach ca. einer Stunde haben alle ihren Becher Kaffee getrunken. Die Sonne scheint immer noch – von meinem Kollegen habe ich bisher nur einen Schatten gesehen. Wahrscheinlich sitzt er mal wieder im Büro und kümmert sich dort um die liegengebliebene Arbeit. Teamleiter haben ja bekanntlich immer etwas mehr zu tun.
Am liebsten würde ich mit den Bewohnern die letzten Sonnenstrahlen genießen. Aber wenn ich so in die Runde blicke, sind nur zwei dank E-Rollstuhl in der Lage, selbst zu fahren. Doch ob bei denen die Konzentration für einen ganzen Spaziergang reicht, ist fraglich. Die anderen sechs Bewohner sitzen in sogenannten Aktiv-Rollstühlen mit denen sie selbst fahren könnten, wären ihre Arme nicht durch spastische Lähmungen unbrauchbar. Und wer kümmert sich um die Bewohner, während ich mit einem spazieren gehe?!
Also bleiben wir heute drin. Ich krame den CD-Kasten durch und lege eine schöne CD auf. Dann frage ich, ob jemand in sein Zimmer gebracht werden möchte. Keine Reaktion. Also biete ich ihnen weitere Getränke an und stelle den Bewohnern simple Fragen, die sich mit Ja oder Nein bzw. mit „a“ oder „—“ beantworten lassen. Sehr schleppende Unterhaltung, die irgendwann einschläft. Alle lauschen der Musik und starren ins Leere.
Nach weiteren 1,5 Stunden decke ich Abendbrot. Mittlerweile ist noch eine Aushilfe gekommen. Ich halte einer Bewohnerin zuerst Frischkäse, dann Brotsalat vor die Nase und versuche zu erkennen, was sie möchte. Keine Reaktion. Vielleicht Käse oder Zwiebelmett?! Sie grinst. Also Zwiebelmett. Ich schneide das Toastbrot in kleine Stücke und stecke ihr eins nach dem anderen in den Mund. Mittlerweile ist mein Kollege auch endlich aufgetaucht und wir reichen zu dritt das Abendbrot. Jeder einen Bewohner links und rechts im Wechsel.
Anschließend werden die zu duschenden Bewohner aufgeteilt (jeder einen) und um spätestens 19:00 Uhr geht es in die Versorgung: Nach dem Zähneputzen hebe ich die schweren Leute mittels Lifter aus dem Rollstuhl, die leichteren (bis 30 Kg) hebe ich so, da das Liften so lange dauert. Dann heißt es ausziehen, (ggf. duschen), waschen, frische Windel, Schlafanzug an, individuell lagern, zudecken und das gewünschte Fernsehprogramm raussuchen (besonders beliebt sind Krimis und Musiksendungen). Dann zum nächsten Bewohner. Um 21:30 Uhr habe ich mein Soll erfüllt: drei Bewohner liegen im Bett, um den Rest haben sich meine Kollegen gekümmert. Noch schnell Doku schreiben („Fr. Müller hat heute mit Assistenz Abendbrot zubereitet“ = ich habe das Abendbrot zubereitet und Fr. Müller saß daneben und hat im besten Fall zugeschaut), Übergabe und dann um 21:45 nach 7 Std. endlich Feierabend.
So sieht ein Tag in der Wohngruppe aus. Im Haus wohnen ca. 20 schwerstbehinderte Menschen (alle mit ähnlich schweren Behinderungen) auf drei Etagen verteilt. Der Alltag ist von chronischem Personalmangel gekennzeichnet und verläuft meistens so trist wie oben beschrieben.
In einer anderen Wohngruppe wohnen ebenfalls 7 Menschen. Alle haben eine geistige Behinderung. Nur wenige sind an den Rollstuhl gebunden und bis auf zwei können auch alle sprechen. Nur einer (nennen wir ihn Herrn Meier), kann kaum laufen, nicht sprechen und auch nicht alleine essen. Er äußert keine Wünsche und reagiert auch nicht erkennbar auf Ansprache. Vom Schweregrad der Behinderung also vergleichbar mit den Bewohnern aus der obigen Wohngruppe.
Gegen 16:30 Uhr kommen die Bewohner von der Werkstatt in die Wohngruppe. Nach einem gemeinsamen Kaffeetrinken, bei dem ich die neuesten Geschichten aus dem Werkstattalltag zu hören bekomme, überlegen wir, wie wir den Nachmittag verbringen. Einige müssen ihr Zimmer aufräumen, außerdem müsste noch Wäsche gelegt werden.
Ich gehe in den Keller um die Wäsche zu holen und drücke einem Bewohner den Wäschekorb in die Hand, der die Wäsche legt und auf die Zimmer bringt.
Eine andere Bewohnerin putzt mit Assistenz meines Kollegen ihr Zimmer: Sie putzt, mein Kollege kontrolliert, ob sie auch wirklich alle dreckigen Stellen sieht und zeigt ihr bei Bedarf, wo noch gesaugt werden muss.
Zum Abendbrot soll es heute neben Brot auch Würstchen, Rührei und Salat geben. Ich hole die Zutaten aus der Speisekammer und bereite mit zwei anderen Bewohnern das Abendbrot vor. Sie schnippeln die Zutaten für den Salat, später braten sie unter meiner Aufsicht Rührei und Würstchen.
Die anderen Bewohner sitzen auf dem Sofa, blättern in Zeitschriften oder spielen Mensch ärger Dich nicht. Herr Meier liegt auf seinem Sitzsack, knetet ein Handtuch und teilt mit lautem Lachen und Kreischen allen seine gute Laune mit.
Beim Abendbrot reicht einer der anderen Bewohner Herrn Meier das Essen an.
Am Wochenende machen wir mit einigen einen Ausflug. Die 3 Rollstuhlfahrer werden abwechselnd von den anderen Bewohnern und den Mitarbeitern geschoben.
Einige andere spielen mit ein paar Bewohnern aus den anderen Wohngruppen im örtlichen Sportverein Handball.
Warum also nicht in jeder Wohngruppe solch eine bunte Mischung? „Das geht nicht, denn wir wollen unsere Bewohner so gut und individuell wie möglich fördern und das geht nur, wenn wie sie dem schweregrad der Behinderung entsprechend in Wohngruppen sortieren“ lautete die Antwort eines Mitarbeiters aus der erstgenannten Wohngruppe auf meine Frage.
Natürlich wird durch die homogene Zusammensetzung nicht so schnell jemand bevorzugt. Jeder bekommt mal einen Stapel Wäsche auf den Schoß und wird durch alle Zimmer geschoben, damit später in der Doku steht, er habe mit Assistenz Wäsche aufgeräumt.
Ob Frau Müller in ihrer Wohngruppe mehr Ansprache hat, wenn man sich doch gar nicht richtig mit ihr unterhalten kann, bleibt jedoch offen. Mit Herrn Meier kann man sich zwar auch kein Gespräch führen, und er reagiert auch nur selten merklich auf Ansprache. Aber er wird von seinen Mitbewohnern oft angesprochen und wenn eine Mitbewohnerin sich zu ihm aufs Sofa setzt, ihn streichelt und ihm den Arm um die Schultern legt, geht ein Lächeln über Herrn Meiers Gesicht, er streckt den Arm aus und zieht die Mitbewohnerin zu sich heran.
Ist das Leben in der Gemeinschaft, die Ansprache und Zuneigung durch die anderen Mitbewohner und die vielen Ausflüge für einen derart schwer behinderten Menschen nicht wichtiger, als der zwanghafte Versuch, ihn in die Gesellschaft einzugliedern und ihn zu einem möglichst selbstbestimmten, eigenständigen Leben zu führen, das der gesellschaftlichen Vorstellung eines selbständigen Lebens im eigenen Wohnraum möglichst nahe kommt?