Kochen mit Zahlenschwäche
Paul lebt gemeinsam mit seinem Mitbewohner in einer Zweier-WG. Tagsüber arbeitet er in der nahegelegenen Werkstatt, in seiner Freizeit macht er viel Sport, trifft sich mit seiner Familie oder sieht sich Dokus im Fernsehen an. Seine Behinderung sieht man Paul auf den ersten Blick nicht an. Er wirkt selbstsicher, kann sich sehr gewählt ausdrücken und erzählt gerne von den Ereignissen aus seinem Alltag. Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch seine Zahlenschwäche auf, die ihm den Alltag sehr erschwert. Auch beim Kochen hat er erhebliche Probleme, weshalb er das mit seiner ambulanten Betreuerin üben soll.
Heute soll es Kartoffelgratin geben. Da Paul ein normales Rezept nicht richtig interpretieren kann, habe ich das Rezept vorher umgeschrieben. Die zum Teil sehr ungenaue Beschreibung habe ich in einzelne Arbeitsschritte unterteilt, in leichte Sprache (d.h. kurze Sätze ohne Fremdwörter) umgewandelt und mit Bildern illustriert. Für manche Gerichte gibt es im Internet bereits sogenannte Bildrezepte, die meisten Rezepte muss ich aber an Paul und meine anderen Betreuten bzw. auf deren Beeinträchtigung anpassen.
Zuerst verschaffen wir uns einen Überblick über die benötigten Zutaten: 1 Kg Kartoffeln, 200g Sahne, Salz, Pfeffer, Muskat und 100g geriebener Käse. Paul schreibt eine Einkaufsliste und wir gehen einkaufen. Im Supermarkt kommt die erste Hürde: Paul braucht 1 Kg Kartoffeln, in den Paketen sind aber nur 2 oder 2,5 Kg drin. Ob das wohl reicht? Durch seine Zahlenschwäche weiß Paul nicht genau, in welcher Reihenfolge die Zahlen stehen und welche Zahl mehr oder weniger als eine andere ist. Da kann er oft nur raten. Wir zählen: 1,2,3… die 2 kommt also nach der 1. Paul kommt zu dem Schluss, dass ein 2 Kg-Paket reichen müsste. Sahne gibt es im 200g-Becher. Puh, Glück gehabt, das Rechnen bleibt erspart. Dafür wird es beim Reibekäse nochmal kompliziert.
Schließlich haben wir alles und gehen zur Kasse. Paul bezahlt mit einem großen Schein, es reicht. Bezahlen ist für Paul auch immer schwierig, da er auch hier durch seine Unsicherheit in der Zahlenfolge oft nicht weiß, welcher Schein wie viel wert ist. Aber meistens klappt es irgendwie.
Zuhause müssen wir erstmal den Backofen vorheizen: 200°C bei Ober- und Unterhitze. Paul begutachtet die Knöpfe des Ofens und überlegt, welcher für den Backofen sein könnte. Vier Knöpfe sind für die Platten, zwei haben komische Symbole. „Der?“ Fragt er mich und zeigt auf den Knopf mit der Temperatur. Ich bejahe und fordere ihn auf, herauszufinden, auf wieviel Grad er stellen muss. Das fällt ihm schwer aber nach mehrmaligem Raten schafft er es schließlich, die richtige Temperatur zu finden. Das Einstellen von Ober- und Unterhitze ist ebenfalls ein kleines Ratespiel, obwohl ich das Symbol extra im Rezept abgebildet habe.
Das Abwiegen der Kartoffeln gelingt Paul gut. Auf dem Ziffernblatt seiner analogen Waage sucht er die 1, dann stapelt er Kartoffeln in die Waagschale und beobachtet, wie der Zeiger sich langsam auf die 1 zubewegt. Als der Zeiger auf der 1 steht, hört Paul auf und schaut mich erwartungsvoll an. „Stimmts?“ fragt er. „Ja!“ sage ich.
Wir schälen die Kartoffeln und schneiden sie in feine Scheiben, die wir in die Auflaufform stapeln. Die Sahne würzen wir kräftig und kippen sie über den Auflauf. Dann wird es nochmal knifflig: der Käse muss abgewogen werden. Aber auch diesen Schritt meistert Paul, dank seiner analogen Waage, gut.
Schließlich kann alles in den Ofen. Paul stellt sich den Timer auf seinem Handy, der ihn erinnert, wenn der Auflauf fertig ist.
Das Kartoffelgratin ist ein einfaches Gericht, das Paul nach dem gemeinsamen Kochen mit mir auch alleine nachkochen kann. Für das nächste Mal schreiben wir noch die Einkaufsliste ins Rezept: 1 Paket Kartoffeln, 1 Becher Sahne und 1 Paket Käse, damit Paul auch im Laden alleine zurechtkommt.
Es gibt aber auch Rezepte, die wir öfter kochen müssen, damit Paul sie versteht. Auch Angaben wie z.B. „Stelle die Herdplatte auf höchste Stufe“ kann Paul nur schwer verstehen, da er nicht weiß, was bei seinen Herdplatten die höchste Stufe ist. Natürlich könnte ich im Rezept auch Stufe 3 schreiben. Aber wenn Paul wo anders kocht oder einen neuen Herd bekommt, müsste ich das Rezept umschreiben. Daher möchte ich, dass Paul etwas Flexibilität erlernt. Auch Mengenangaben wie ¼ l, 200ml oder 1l sind für ihn schwierig und nur mit Hilfe einer extra für ihn angefertigten Übersetzungstabelle die wir im Laufe der Zeit mehrmals anpassen mussten, und einem besonders gekennzeichneten Messbecher, möglich.
Normale Rezepte könnte Paul nicht nachkochen, da er die Rezeptsprache nicht verstehen und Mengenangaben oder Anweisungen für den Herd nicht interpretieren könnte. So geht es auch vielen meiner anderen Betreuten. Denen fällt zwar das Abwiegen und Einschätzen der Mengenangaben oft leichter, Anleitungen im Fließtext können sie jedoch kaum umsetzen. Das Erlernen neuer Wörter und deren Bedeutungen ist bei manchen Betreuten möglich, andere brauchen aber sehr lange, bis sie sich die neuen Begriffe gemerkt haben und oft ist das praktische Lernen über das Kochen einfacher als die dazugehörige Theorie.
Bis meine Betreuten neue Rezepte ohne mich nachkochen können, wird es noch sehr lange dauern, da es nur in versteckten Nischen geeignete Rezepte gibt und an unterschiedlichen Stellen immer wieder unerwartete Barrieren auftreten. Auch hier ist es bis zur vollen Inklusion noch ein weiter Weg.